Die Künstler:innen Anna-Maria Bogner und Siniša Kandić hinterfragen in der Ausstellung MATCH:ENDLICHKEIT die Prinzipien der Sehwahrnehmung. Ihre Werke fordern dazu auf, die eingefahrenen Sehtraditionen zu durchbrechen und die Komplexität unserer Raumwahrnehmung zu erforschen. Hierbei spielen sie geschickt mit den Grenzen und Möglichkeiten unserer Sinneseindrücke und eröffnen uns dergestalt einen Blick auf die ungesehenen Dimensionen des Raums und die Werdung von Bildräumen zu Raumbildern.
Begleitet wird ihre Ausstellung von Performances der Abramović-Schüler:innen Eleonora Arnold, Gloria Carobini, Camillo Guthmann, Anna Veronika Hargitai und Julian Mattlinger. Mit ihren performativen Darbietungen setzen sie die Erforschung der Wahrnehmungsgrenzen fort und erweitern das Spektrum der Ausstellung.
Rationalität ist ein bestimmendes Element unserer Gesellschaft. Für den Menschen, der versucht, seine Umwelt an seine Bedürfnisse anzupassen, ist zweckorientiertes Handeln ein konstitutives Prinzip seiner Existenz. Unser Handeln ist darauf ausgerichtet, selbst gesetzte Ziele zu erreichen, dient also einem Zweck. So vermuten wir hinter jedem Handeln eine Absicht und hinter jeder Wirkung und hinter jeder Entität eine Ursache. Unser Alltag bestätigt uns darin, dass unsere Ratio unser schärfstes und wichtigstes Werkzeug ist. Sie liegt vielen unserer Entscheidungen zugrunde. Zugleich definiert sie die Grenzen unseres jeweiligen Lebensumfelds. Denn sollte Rationalität ein unserem Denken und Handeln immanentes Prinzip sein, so können wir nicht über sie hinweg. Sie stellt die Grenzlinie zwischen uns und potentiell unendlichen Entitäten dar. Wir brauchen diese Grenzen und wir konstruieren uns weitere, um reale wie soziale Räume in all ihren Dimensionen erfassen zu können. Selbst wenn wir auf das Unendliche verweisen, benutzen wir doch in aller Regel Bilder, mittels derer wir uns die unerfassbare Dimension plastisch vor Augen führen können. Doch auch diese gedanklichen Visualisierungen bleiben vorerst nur ein Verweis auf Unendlichkeit. Es geht also nicht darum Grenzen zu Überschreiten, sondern diese zu erkennen und so einen Blick auf die andere Seite zu erhaschen. So wie ein Test zum farblichen Sehvermögen nicht dazu dient, die Testperson darüber zu belehren, was farbliches Sehen ist, sondern hilft, die Möglichkeiten und Grenzen eigener Wahrnehmung zu erkennen, spielen die Arbeiten mit den Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Raumwahrnehmung. In welchen Räumen bewege ich mich, wie konstituieren sich meine Räume, welche Räume öffnen sich mir und welche verschließen sich mir durch meine eigene Verortung im Raum? Welche Entscheidungen liegen meiner Raumwahrnehmung zu Grunde? Mit einer theoretisch unendlichen Vielfalt an Entscheidungsoptionen bleibt auch unser Handeln immer ein Verweis auf Grenzen und die Entitäten, die dahinter liegen. Raum ist nur eine begrifflich fassbare Unendlichkeit.
Die künstlerischen Bemühungen von Siniša Kandić sind verwurzelt in seiner Auseinandersetzung mit der optischen Wahrnehmung und ihrer Manipulation. Seine Werke stehen im Mittelpunkt einer Exploration, die die Grenzen unserer Wahrnehmung herausfordert und dazu anregt, über die Natur von Bildern und ihre Bedeutung nachzudenken. Für die Ausstellung MATCH:ENDLICHKEIT hat Kandić eigens drei Werkzyklen konzipiert, die er als Ensemble präsentiert.
In diesen Werken erschafft er in seinen „Vitrinen“ einen dynamischen Schwebezustand des Bildes und verweist auf ein grundlegend verändertes Paradigma in Bezug auf die Schlüsselmetapher für das, was ein Bild ist. Anstatt dem Illusionismus zu folgen, öffnet er durch zwei Schichten Glas die strenge Geometrie der Malerei und schafft so völlig neue Bildräume. Der Außenraum, der Betrachter und die grafischen Bildelemente verschmelzen in der Spiegelung der Glasscheibe zu einem faszinierenden Zusammenspiel, das sich einer endgültigen Anschauung entzieht und stattdessen eine dynamische Bildentwicklung fördert. Auf diese Weise werden Bildräume zu Raumbildern.
Die Reihe Zeitungslektüre setzt sich mit dem „Bild aus der Zeitung“ auseinander. Durch den Einsatz unterschiedlicher Bildherstellungsverfahren führt der Künstler zu unerwarteten Bild-Dekonstruktionen, die oft bis zur Grenze der Unkenntlichkeit der ursprünglichen Bildvorlage und darüber hinausführen. So entsteht ein völlig neues Bild, in dem Kandić einen geistigen Raum für den Betrachter schafft.
In seinem Streben, einen Code im ursprünglich analogen Prinzip der Malerei zu finden, reduziert Kandić sein Malmaterial auf das Alltäglichste: Kaffeepulver. Durch die Verfremdung einer Fotovorlage mittels dieses unkonventionellen Mediums gelingt es ihm, ein indexalisches Verfahren zu schaffen. Das Kaffeepulver dient als Pigment und wird großflächig auf die Wand aufgetragen, wodurch sich das bildnerische Motiv aus rieselnden Kaffee-Pixeln ergibt. Diese Darstellung wirft Fragen zur Immanenz des Bildes und zur Erinnerung des Schöpfers auf und offenbart eine faszinierende Dimension der Kunst.
Für Eleonora Arnold ist die Fotografie ein Bezugspunkt, von dem sie sich zunächst entfernt, nur um aus veränderter Richtung zu ihm zurückkehren zu können. Die Künstlerin arbeitet sich an etablierten Techniken, Gebrauchsweisen und Bildwelten ab, indem sie mit ihnen gezielt unsachgemäß umgeht oder sie in neue Zusammenhänge bringt. Die entstehenden Fotografien, Objekte oder performativen Situationen sind oft gleichermaßen konzeptuell wie spielerisch. Raum, Zeit und Bewegung als grundlegende Phänomene werden selbst zum Thema.
Gloria Carobinis Karriere als Ballett-Tänzerin führt sie zur Zusammenarbeit mit namhaften Ensembles, darunter die Kompanie „Ermitage - Visual and Performing Arts“ unter der Leitung von Paolo Londi sowie die „Sticky Trace Company“. In diesen Kooperationen, insbesondere in den Produktionen „FRENZY“ und „RESIDUALS“, die sie in Zusammenarbeit mit Tanz.nord realisierte, zeigt sie ihr tänzerisches Talent.
Ihre künstlerische Vielfältigkeit spiegelt sich in ihrer musikalischen Vergangenheit wider, in der sie Trompete, Gitarre und Mandoline spielt. Carobini konzentriert sich vermehrt auf interdisziplinäre Arbeiten mit renommierten Künstler:innen wie Marina Abramović und Billy Zhao.
Ihr künstlerisches Schaffen zeugt von ihrer Fähigkeit, Kunst in vielfältigen Formen zum Leben zu erwecken und demonstriert ihr Potenzial im zeitgenössischen Tanz.
Camillo Guthmanns künstlerischer Werdegang beginnt mit tiefgreifenden Einflüssen aus der Welt des interdisziplinären Theaters. Seine Wurzeln liegen gleichermaßen in der Musik, dem Sprechtheater und dem Tanz, wobei Körper, Ausdruck und Text im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehen. Ein entscheidender Aspekt seiner künstlerischen Entwicklung ist seine Fähigkeit, sich in einem Ensemble in ein übergreifendes Konzept einzufügen, ohne dabei seine eigene individuelle Ausdrucksweise zu opfern.
Guthmann hegt ein besonderes Interesse an den nahtlosen Übergängen zwischen vorbereiteter Schauspielkunst und authentischen Begegnungen, zwischen Performer und Publikum. Sowohl die Bühne des Theaters als auch der öffentliche Raum ohne feste Bestuhlung, klare Regeln und unvorhersehbare Ausbrüche faszinieren ihn gleichermaßen. In seinen Projekten experimentiert er mit der Darstellung gesellschaftskritischer Themen, oft in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und unter externer Regie.
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf dem Einsatz von Medien, insbesondere im filmischen Bereich, sei es vor der Kamera, hinter der Kamera oder im Schnittlabor.
Camillo Guthmanns künstlerischer Weg zeichnet sich durch eine vielseitige und tiefgründige Auseinandersetzung mit den Facetten des Theaters, der Performance und der Medienkunst aus.
Anna Veronika Hargitai schauspielert, singt und komponiert für ihre eigenen Projekte und Performances und betätigt sich als Lyrikerin.
Nach ihrem Studium der Freien Künste an der ELTE-Universität (Budapest) erwarb sie einen Abschluss in Jazzgesang am Béla-Bartók-Konservatorium (Budapest) und studiert seither „Jazz Performing Artist“ an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Sie spielt in Theatern (Orlai prod. Company, Golem Theater), gibt Konzerte und ist aktive Gastkünstlerin an verschiedenen Veranstaltungsorten und Festivals (Lumen, POSZT, Pontoon, Müpa etc.). Im Jahr 2021 gewann sie den Solistenpreis beim Domicil Förderpreiswettbewerb, sowie den dritten Platz mit ihrem Duo im Gesamtwettbewerb. Sie ist eine der 24 ausgewählten Teilnehmer:innen des Free Interdisciplinary Performance Lab unter der Leitung von Marina Abramović.
Julian Mattlinger ist ein transdisziplinärer Künstler und Musiker. Ursprünglich vom klassischen Klavier kommend (Hochschule für Musik Freiburg, 2020), studiert er derzeit Gesang|Musiktheater an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Durch seine Arbeit als Performer zeitgenössischer Musik hat sich sein Interesse auf andere Kunstformen wie Performance, Installation, Plastik und deren Schnittstellen ausgeweitet, die er als Student in der Klasse von Prof. Marina Abramović in seine künstlerische Praxis inkorporieren konnte. Im Jahr 2023 stellte er bereits im Museum Folkwang aus und trat im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit dem Choreografen Ben J. Riepe und der Komponistin Bára Gísladóttir im Tanzhaus NRW und der TanzFaktur Köln auf.
www.youtube.com/playlist?list=PLz38FdSkhjQXJVjJeXApzewxYdPkpGiNG
9. Dezember 2023 - 21. Januar 2024
Eröffnung & Performance
Freitag, den 8. Dezember, 19 Uhr
Künstler:innen:
Anna-Maria Bogner
Siniša Kandić
Mit Performances von
Eleonora Arnold
Gloria Carobini
Camillo Guthmann
Anna Veronika Hargitai
Julian Mattlinger
Kuratorinnenführungen
Samstag, den 16. Dezember, 16 Uhr
Samstag, den 6. Januar, 16 Uhr
Samstag, den 13. Januar, 16 Uhr
Performances
Freitag, den 8. Dezember, 19 Uhr
Gloria Carobini
Samstag, den 16. Dezember, 17 Uhr
Camillo Guthmann
Samstag, den 6. Januar, 17 Uhr
Eleonora Arnold
Samstag, den 13. Januar, 17 Uhr
Julian Mattlinger
Sonntag, den 21. Januar, 17 Uhr
Anna Veronika Hargitai
Finissage & Performance
Sonntag, den 21. Januar, 17 Uhr
Kuratorin:
Dr. Pia Wojtys
Abbildungen Werke: © die Künstler:innen
Titelgrafik: © Viola Dessin
Fotos Eröffnung: © JS/Künstlerhaus Dortmund
Freundlich unterstützt durch: Kulturbüro Dortmund, Sparkasse Dortmund, Bergmann Brauerei GmbH
Schauen Sie sich die ausstellungsbegleitenden Performances auf YouTube an.