"Alles was ist dauert drei Sekunden
Eine Sekunde für vorher, eine für nachher, eine für mittendrin
Für da wo der Gletscher kalbt, wo die Sekunden ins blaue Meer fliegen."
— Peter Licht, Sonnendeck
Alles, was wir Welt nennen, alles, was wir greifen, spüren, denken – es lebt in einem schmalen Spalt von Zeit: drei Sekunden lang. Dann fliegt der Augenblick davon, verliert seine Schärfe, wird Erinnerung, wird Abwesenheit.
Was wir als „Jetzt“ empfinden, ist nichts Stabiles. Neurowissenschaften haben ergeben, dass unsere bewusste Gegenwart in drei Sekunden langen Inseln des Erlebens stattfindet. Danach bricht ein neuer Zeitstrom an, ein neues „Jetzt“, welches das vorherige verschluckt. In diesen Sekundenfenstern speichert unser Gehirn den Klang einer Melodie, die Geste eines Anderen, die Bewegung des eigenen Körpers. Ist der Reiz vorbei, beginnt das Sortieren – und das Vergessen.
Die Künstler:innen dieser Ausstellung begeben sich in genau diesen Spalt: in die Zeit zwischen dem, was war, und dem, was schon nicht mehr ist. Ihre Arbeiten greifen das Absente auf, zelebrieren das ephemere Dazwischen – dort, wo ein Bild zerfällt, eine Form flüchtet, ein Gedanke sich auflöst.
DREI SEKUNDEN ist ein Versuch, das Absente sichtbar zu machen. Die Ausstellung erschafft Räume für das Flüchtige, öffnet Resonanzräume für das Jetzt, das uns entgleitet, kaum dass wir es berühren. Hier wird Absenz nicht als Verlust begriffen, sondern als die notwendige Bedingung für das Empfinden von Gegenwart. Denn: Nur was vergeht, kann auch gegenwärtig gewesen sein.
Julius von Bismarck (*1983, lebt in Berlin) erforscht in seinen Werken die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen und nutzt die Gesetze der Physik, um unsere Sehgewohnheiten in Frage zu stellen.
Für DREI SEKUNDEN präsentiert er die Videoarbeit Den Himmel muss man sich wegdenken (2014). Der Film dokumentiert die Bewegung einer riesigen Welle während eines Sturms, die sich als monochrome Landschaft unter einem Himmelsstreifen entpuppt. Zunächst kaum wahrnehmbar, ist in den spitzen Konturen der Wellen eine subtile Bewegung zu erkennen - ein organisches Zusammenziehen und Ausdehnen eines Berges. Mit der geronnenen Schwere und Kraft von Lava fließt diese Wassermasse durch das Bild. Der Film wurde mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen, die es Julius von Bismarck ermöglichte, die flüchtige Bewegung einer Riesenwelle einzufangen und zu verlangsamen.
William Engelen (*1964, lebt in Berlin) ist bildender Künstler und Komponist. Seine Arbeiten bewegen sich im Spannungsfeld von visueller Kunst und Musik. Durch das Zusammenspiel beider Disziplinen lotet er die Grenzen zwischen Bild und Klang aus und entwickelt hybride Formen wie Installationen, Performances, Videos, Partituren und Modelle.
William Engelen widmet sich in seiner Videoarbeit À la Gould dem legendären Pianisten Glenn Gould – nicht über dessen Spiel, sondern über das, was Gould selbst als störend empfand: sein Summen, Atmen, das Rascheln seiner Kleidung. Vier Pianisten interpretieren je eine Variation aus Bachs Goldberg-Variationen – allerdings stumm: Sie spielen auf einem unsichtbaren Textilklavier, zu hören sind nur ihre Nebengeräusche und ihre physische Präsenz.
Die Videoarbeit, montiert von Dagmara Genda, zeigt vier Variationen (Aria, Nr. 12, 15 und 20), die jeweils auf unterschiedliche Weise bearbeitet wurden. Der Fokus liegt auf der Vielfalt von Interpretation, Zeitgefühl und körperlichem Ausdruck. Die Musiker wurden einzeln aufgenommen, ihre Beiträge jedoch so kombiniert, dass sich vielstimmige, quasi improvisierte „Ensembles“ ergeben – eine Hommage an die Vielschichtigkeit musikalischer Aufführung.
Engelen verwandelt damit Glenn Goulds Wunsch nach der perfekten Studioaufnahme in eine poetische Reflexion über Variation, Wiederholung und das Flüchtige. À la Gould lässt Musik entstehen, wo scheinbar keine ist – im Dazwischen, in der Abwesenheit des Instruments.
Igor Eškinja (*1975, lebt in Rijeka, Kroatien) entwickelt raumbezogene Arbeiten, die mit Bescheidenheit und Eleganz Wahrnehmung herausfordern. Seine Installationen und Wandzeichnungen entstehen aus einfachen Materialien wie Klebeband oder Elektrokabeln, die er mit höchster Präzision in streng kalkulierten Raumgefügen arrangiert. So schafft er Werke, die zwischen Zwei- und Dreidimensionalität oszillieren und über das Sichtbare hinaus in imaginäre und immaterielle Räume vordringen.
Die Reduktion der Form eröffnet ein vielschichtiges Bedeutungsspektrum: Leere wird zum aktiven Wahrnehmungsraum, zur Projektionsfläche für das Imaginäre. Eškinja nutzt diese Leere nicht zur Verbergung, sondern als Kommentar zum Regime der Sichtbarkeit – sie lädt dazu ein, mit dem Blick ein imaginäres Volumen zu erschaffen.
Auch der temporäre Charakter seiner Arbeiten – etwa bei ornamentalen Teppichen aus Staub oder Asche – steht für einen stillen Widerstand gegen institutionelle und gesellschaftliche Konventionen. Eškinjas Kunst stellt sich bewusst der Flüchtigkeit und der Offenheit im Raum.
Sabrina Fritsch (*1979, lebt in Köln) ist seit 2021 Professorin für Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine präzise Auseinandersetzung mit Oberfläche, Struktur und Materialität aus. In ihren vielschichtigen Kompositionen entwickelt sie eine eigenständige, poetische Form der Malerei, die sinnliche Wahrnehmung und konzeptuelle Strenge miteinander verbindet.
Für DREI SEKUNDEN entwickelt Fritsch eine raumgreifende Installation im Prinzip eines überdimensionierten Setzkastens – einer historischen Ordnungshilfe aus dem Buchdruck, die traditionell der Aufbewahrung von Lettern diente. Diese Struktur, Sinnbild für Sprache, Reihung und Systematik, bleibt in weiten Teilen unbesetzt. Nur einzelne Fächer enthalten schwarze, fein modulierte Malereien, die im Streiflicht schemenhafte Silhouetten von Frauenkörpern offenbaren. Die bewusste Leere zwischen den gefüllten Segmenten verstärkt die Wirkung des Fehlens und verweist auf das Unsichtbare, Verborgene oder Vergessene. Fritschs Arbeit oszilliert so zwischen Präsenz und Absenz, Ordnung und poetischer Auflösung.
Monika Grzymala (*1970, lebt in Berlin) ist eine zeitgenössische Zeichnerin, Bildhauerin und Installationskünstlerin mit dem Schwerpunkt architektonische Intervention und Raumzeichnung.
Als eine Bildhauerin, die zeichnet, arbeitet Grzymala mit vielfältigen Medien und verortet diese als ephemere oder permanente Interventionen im Raum. Für die meist großformatigen Formationen verwendet sie verschiedene Materialien von Klebebändern bis 3D Zeichnung in VR.
Für DREI SEKUNDEN realisiert sie eine großflächige Tape-Installation, deren Linien ein dynamisches Netz im Raum formen. Die leeren Zwischenräume sind dabei ebenso bedeutend wie die sichtbaren Verbindungen. Im Verlauf der Ausstellung beginnt das Werk zu zerfallen – ein geplanter Prozess, der Vergänglichkeit, Leere und Transformation thematisiert
Moonjoo Kim (*1998, Seoul, lebt und arbeitet in Essen) ist eine Tänzerin und Performerin, deren Arbeit von einer tiefen Sensibilität für Bewegung, Körperwahrnehmung und gestische Feinheit geprägt ist.
Ausgehend vom traditionellen koreanischen Tanz verbindet sie körperliche Ausdrucksformen mit visuellen und strukturellen Elementen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Erforschung von Bewegung im Spannungsfeld zwischen Tanz, Zeichnung und Notation. In ihren Arbeiten verschmelzen körperliche Präzision, poetische Imagination und analytische Klarheit zu einer eigenständigen performativen Sprache.
Ihre Performances entfalten sich oft an der Schnittstelle von Körper, Linie und Raum. Moonjoo Kim interessiert sich für die Spuren, die Bewegung hinterlässt – sei es im Körpergedächtnis, auf der Fläche oder im kollektiven Erleben. Dabei knüpft sie an choreografische und notatorische Praktiken an und erweitert diese um persönliche, kulturell geprägte Perspektiven. Für die Ausstellung DREI SEKUNDEN entwickelt sie eine neue Performance, die sich mit Absenz auseinandersetzt.
Gregor Schneider (*1969, lebt in Rheydt) arbeitet an existentiellen Fragen der An- und Abwesenheit von Menschen im Raum, nach dem nicht Fassbaren. Seine Kunst holt ins Bewusstsein, was im Verborgenen bleibt, weil es nicht mehr kommuniziert werden kann.
Mit VITAROM thematisiert Gregor Schneider das Verschwinden von Landschaft und Identität durch den Braunkohletagebau. Die Fotografien zeigen die einst bewohnten Gebiete in Neurath, nun menschenleer, entleert und von einem künstlichen Rosa überzogen – eine Farbe, die zugleich Präsenz markiert und die Abwesenheit verschleiert. Die Arbeiten verweisen auf Orte, die es so nicht mehr gibt, deren Existenz nur noch als Bild fortbesteht.
Schneiders Werk macht das Unsichtbare spürbar: die verlorenen Häuser, die verschwundenen Straßen, die verdrängte Geschichte. In „VITAROM“ wird Absenz zur eigentlichen Hauptfigur – eine Stille, die nachhallt und die Frage aufwirft, was bleibt, wenn alles verschwindet.
Troika ist eine Künstler:innengruppe, die 2003 von Eva Rucki (*1976, Deutschland), Conny Freyer (*1976, Deutschland) und Sebastien Noel (*1977, Frankreich) gegründet wurde. Die Künstler:innen leben und arbeiten in London, UK. In ihren Malereien, Skulpturen, Filmen und raumgreifenden Installationen machen sie die Wechselwirkungen zwischen analogen und digitalen Realitäten zum Thema.
Troika präsentiert mit Obsolete Landscapes (2024) eine Werkserie, die sich mit der digitalen Repräsentation und dem Verschwinden natürlicher Landschaften auseinandersetzt. Das Kollektiv hat ikonische Desktop-Hintergründe von Apple-Betriebssystemen seit 2014, die kalifornischen Landschaften zeigen, so bearbeitet, dass nur noch der Himmel sichtbar ist. Durch das Entfernen der Landschaftselemente hinterfragt Troika die Ästhetisierung und Banalisierung dieser Naturschönheiten in der digitalen Welt. Die Serie thematisiert den technologischen Fortschritt und dessen Beitrag zur Erosion dieser Landschaften – sowohl durch den Ressourcenabbau für die Produktfertigung als auch durch die Obsoleszenz der digitalen Darstellungen mit jedem neuen Update. Die Werke laden dazu ein, über die menschliche Beziehung zur Natur als austauschbare Ressource nachzudenken und die Rolle des Himmels als verbindendes Element zu erkennen, das sich der kapitalistischen Aneignung entzieht.
2. August - 14. September 2025
Preview / Kuratorinnenführung
Freitag, den 1. August, 17.30 Uhr
Eröffnung
Freitag, den 1. August, 19 Uhr
Künstler:innen:
Julius von Bismarck
William Engelen
Igor Eškinja
Sabrina Fritsch
Monika Grzymala
Moonjo Kim
Gregor Schneider
Troika
Kuratorinnen:
Dr. Pia Wojtys, Anna-Maria Bogner
Titelgrafik: Viola Dessin, Jonas Brüggemann
Abbildungen Werke: © die Künstler:innen
Freundlich unterstützt durch:
Kulturbüro Dortmund, Bergmann Bier, StadtbezirksMarketing Dortmund e.V., Kulturrucksack NRW
Das Geheimnis der unsichtbaren Dinge
Fotokurs für Kinder und Jugendliche
18. - 21. August, 11 - 15 Uhr